Mit der Pubertät ist das so eine vertrackte Geschichte. Die Magie der (im Nachhinein so oft verklärten) Kindheit ist dahin, die Welt, die früher noch von Feen, Drachen, Elfen und schönen Prinzessinnen bevölkert wurde, ist entzaubert und wird nun von sehr pubertären und somit nur allzu menschlichen Trieben, Ängsten und Vorstellungen beherrscht. Das gleiche gilt für Harry Potter, den berühmtesten Zauberlehrling aller Zeiten mit der gezackten Narbe auf der Stirn: Die weltweite Euphorie ist - zwei Jahre nach Erscheinen des letzten Romans des siebenbändigen Zyklus - verflogen, das magische Phänomen aus den Auslagen und den Schaufenstern der Buchhandlungen verschwunden. Auf dem Thron der Bestsellerlisten haben es sich mittlerweile Stephanie Meyers schnieke "Twilight"-Vampire bequem gemacht, und von den Wänden der Kinderzimmer starren nicht mehr Harry, Ron und Hermine, sondern Tokio Hotel, Edward Cullen und Miley Cyrus.
Regisseur David Yates hätte daher aus der nicht wirklichen Not eine Tugend machen können und autark von jedem hysterischen Jugend-Hype mit der sechsten Joanne-K-Rowling-Adaption eine gänzlich erwachsen gewordene Verfilmung vorlegen können, so wie es die Autorin selbst ja auch mit ihren Romanen vollzug, die sie im Gleichschritt mit ihren Protagonisten reifer, düsterer und erwachsener werden ließ.
Leider tat er genau dies nicht: "Harry Potter und der Halbblutprinz" ist vielmehr nach dem zaghaften Schritt vorwärts in der ebenfalls von David Yates inszenierten vorangegangener Potter-Verfilmung "Der Orden des Phönix" wieder drei Schritte zurück in Richtung Anbiederung an die Zielgruppe. Und die ist eben immer noch weiblich, im Schnitt zwischen 10 und 12 Jahren alt und trägt Zahnspangen.
In "Harry Potter und der Orden des Phönix" hatten Regisseur David Yates und sein damaliger Drehbuchautor Michael Goldenberg den Mut besessen, auf der Höhe der Potter-Manie zum Zeitpunkt des Erscheinens des Abschlussbandes sieben aus der fünften, bislang längsten Romanvorlage den kürzesten und zudem finstersten Film der Serie zu machen, konsequent düster und ganz am Geschmack und am nervlichen Empfinden des Durchschnitts-Teenagers vorbei. Was dem erfolgreichsten Film des Jahres 2007 einiges an Sympathien und angeblich auch zahlreiche Millionen Einnahmen kostete. So griff man in der latenten Furcht vor einer kommerziellen Bachlandung im Jahre zwei nach Harry Potter zum untauglichsten Mittel und holte ausgerechnet Steve Kloves als Drehbuchautor zurück, der schon die beiden Chris-Columbus-Verfilmungen zur wunderhübsch bebilderten, aber inhaltlich geist- und seelenlosen Nummernrevue zerstückelt hatte.
Dabei beginnt der Film mit einem echten Paukenschlag: Über London dräuen düstere Unheilswolken, aus denen sich das "Dunkle Mal", das Zeichen des bösen Lord Voldemort hervorschält. Dann schießen drei schwarze Wesen aus der Finsternis und bringen die berühmte Londoner Millenium-Brücke zum Schwingen, die nach einer beeindruckenden Katastrophen-Sequenz mit zahlreichen Opfern auseinander bricht und in den Fluten der Themse versinkt, ganz so, als wolle der sechste Harry-Potter einen Vorgeschmack auf Roland Emmerichs neuen filmischen Weltuntergang "2012" geben. Es herrscht Krieg, seit der böse, faschistische Lord Voldemort in Band vier wiederauferstanden ist und nach alter Macht zurückstrebt, und längst haben sich die Fronten auf die Welt der Muggel ausgeweitet.
Doch nach diesem wahrhaft fulminanten Auftakt legt David Yates eine geruhsame Atempause ein, die bis zum Ende des Films vorhält. Vor der malerischen Postkartenansicht der schottischen Highlands dampft der Hogwarts-Express heim ins Reich beschaulicher Teenager-Idylle. Denn obwohl Hogwarts sich mittlerweile im Belagerungszustand befindet (Auroren bewachen das Gelände, Schüler werden nach Waffen durchsucht, und ein magischer Schutzschild verhindert das Eindringen der Gehilfen Voldemorts) geht es hinter den Schulmauern nach wie vor zu wie bei Hanni und Nanni. Zu keinem Zeitpunkt lassen Regisseur Yates und Drehbuchautor Kloves den Zuschauer die latente Panik verspüren, die Joanne K. Rowlings Romanvorlage so genial vermittelte, dessen Handlung vor dem stetig verfinsternden Hintergrund des Krieges zwischen guten und bösen Zauberwesen der lange erwarteten finalen Auseinandersetzung zwischen Harry und seinem dämonischen Alter Ego Voldemort entgegenfiebert.
Und genauso wenig spürt man etwas von der unglaublichen Spannung, die insbesondere die letzten beiden Harry-Potter-Romane mit ihren Zeitsprüngen in die Vergangenheit beim Leser erzeugen, dem detektivischen Puzzlespiel aus Versatzstücken uralter, finsterer Geheimnisse, die nur Stück für Stück ans Licht kommen und oftmals auch Figuren der guten Seite schlagartig in ein neues, erschreckendes Licht tauchen.
Gerade Band sechs hätte Joanne K. Rowling statt "Harry Potter and the Halfblood Prince" treffender mit "The beginning and the life of Tom Riddle" überschreiben können, erzählt es doch in weiten Teilen mittels grandios eingewobener Flashbacks nahezu die gesamte Biographie jenes jungen, fehlgeleiteten Zauberers, aus dem später der große Finsterling Voldemort werden soll.
Doch bei David Yates ist davon fast nichts zu sehen. Nur ganz am Rand streift der Film über das Denkarium und der darin sichtbaren Erinnerungen die Vergangenheit Tom Riddles. Ralph-Fiennes-Neffe Hero Fiennes-Tiffin spielt ihn in den Rückblicken mit dämonischer Leichenblässe im Stil eines Damien Thorn aus dem 70er-Jahre-Schocker "Das Omen". Noch viel weniger Zeit verschwendet der Film für das Rätsel um den titelgebenden Halblutprinzen: Sein Name wird einmal kurz im Zusammenhang mit einem ganz besonderen Schulbuch erwähnt, seine Identität geradezu beleidigend beiläufig im Finale enthüllt. Eine Erklärung für den Namen Halblutprinz bleiben David Yates und Steve Kloves ebenso schuldig wie das Rätselraten um seine geheimnisumwitterte Vergangenheit und sein scheinbar phänomenales Wissen um bestimmte magischen Künste. Ähnliches gilt für nahezu die gesamten Zusammenhänge um den reaktivierten Hogwarts-Lehrer Horace Slughorn, die von ihm einst ins Leben gerufene burschenschaftsähnliche Verbindung unter den Hogwarts-Studenten und insbesondere seine unglückselige Verbindung zum späteren Lord Voldemort.
Stattdessen fokussiert sich der Film die meiste Zeit in wunderschön elegischen, aber seelenlosen Bildern auf die Hitzewallungen, denen die spätpubertierenden Hogwarts-Zöglinge ausgesetzt sind. Schlickschlupfe heißen die magischen unsichtbaren Geschöpfe, die laut Harry Potters mittelschwer verträumt und entrückt faselnden Mitschülerin Luna Lovegood (in den Potter-Romanen ist sie eine wundervolle Satire auf die Hippie-Generation) die Menschen befallen und im Kopf wuschig machen. In der Muggelwelt werden sie üblicherweise Hormone genannt, und ihre Auswirkungen auf das Verhalten pubertierender Zauberschüler mag ja ab und an etwas durchaus Witziges an sich haben, nur dummerweise überhaupt nichts Magisches. Und so bietet zwar Rons und Hermines ewiges Gezanke, hinter dem sich selbstverständlich nichts anderes als die echte, wahre Liebe verbergen kann, sowie Harrys Schmachten nach der bleichen, unscheinbaren Weasley-Schwester Ginny den einen oder anderen unterhaltsamen Lacher, aber eben so überhaupt nichts Märchenhaftes oder Magisches.
Die wirklich wichtigen Handlungselemente des Buches werden allenfalls einmal beiläufig im Vorbeigehen angerissen, abgehakt, und das war's. Dass "Harry Potter und der Halbblutprinz" literarisch der Prolog ist, der die handlungstragenden Figuren in Stellung für das große Finale bringt? Wen interessiert's. Das finstere Geheimnis um Voldemorts Unsterblichkeit? Wird mit so knappen Dialogsätzen abgetan, dass man es fast sofort wieder vergessen hat. Der unglaubliche Schock gleich zu Beginn des Buches, als ein Treffen mit der Sirius-Black-Mörderin Bellatrix Lestrange und der Draco-Malfoy-Mutter Narcissa die wahren Absichten von Professor Severus Snape offenbart? Kaum der Rede wert. Zu den dämonischen Inferi, mit denen sich Harry und Professor Dumbledore in einer unterirdischen Höhle auseinandersetzen müssen und die nichts anderes sind als Zombies, wird nicht ein einziges Wort der Erklärung verloren. Und der Halbblutprinz? Ach ja, den gab's ja auch noch. Der offenbart Harry wenige Minuten vor Schluss einfach mal eben, dass er es nun einmal ist. Ach so ist das. Und Punkt und aus.
Zudem bewirkt die extrem stilisierte, oftmals geradezu in Gemäldeform gegossene Inszenierung, dass man weder den adretten Jungschauspielern noch ihren arrivierten, erwachsenen Kollegen ihre Emotionen auch nur ansatzweise abnimmt. Die Tränen, die Hermine um den liebestoll gewordenen Ron vergisst, fließen viel zu dekorativ vor sonnenuntergangsbeschienen Hogwarts-Ornamenten. Hauptdarsteller Daniel Radcliffe gibt seinen Harry ständig ein wenig geistesabwesend wie ein Zwanzigjähriger, den es nervt, einen 16jährigen spielen zu müssen. Und die wenigen Dialogsätze, die Alan Rickman wie in Trance dahinsäuselt, grenzen an Arbeitsverweigerung. Allein Michael Gambon, der sich in der entscheidenden Szene des Films vom souveränen, magischen Übervater und Schutzpatron Dumbledore zum flehenden, gebrochenen alten Mann verwandet, vermag darstellerisch einige wenige Glanzlichter zu setzen.
Das offene Ende mit dem Showdown auf dem Dach des Hogwarts-Turms entspricht inhaltlich dem Buch, doch ist es dort der entscheidende Cliffhanger vor dem furiosen Finale in Band sieben, im Film hingegen wie alles zuvor auch nur eine beiläufig erwähnte Nebensache, eine Banalität ohne jegliche dramaturgische Geschlossenheit. Und um das Filmende vollends zu ruinieren, lassen David Yates und Steve Kloves eine besonders dramatische Action-Sequenz des Buches, die wie eine Vorübung auf das gewaltige Schlachtenspektakel in Band sieben wirkt, völlig unter den Tisch fallen.
Soap statt Action, statt "The beginning and the life of Tom Riddle" also "Vier Knutschflecke und ein Todesfall"? Das wäre ja dann ein Fall für den "Vier Hochzeiten und ein Todesfall"-Regisseur Mike Newell gewesen, der anno 2004 aus dem vierten Band "Harry Potter und der Feuerkelch" ein recht ansehnliches Fantasy-Spektakel mit deutlich mehr Action und vor allem mit einem wirklich ansprechenden Drachenkampf zauberte. David Yates jedoch ist weder Action- noch Fantasy-Mann, sondern Fernseh-Regisseur, und das merkt man "Harry Potter und der Halbblutprinz" in nahezu jeder Szene an.
Der richtige Mann auf dem Regiestuhl wäre eindeutig der Mexikaner Guillermo del Toro gewesen, um den sich die Produzenten bereits für den "Orden des Phönix" nachhaltig bemüht hatten, der dann jedoch seinem "Hellboy"-Sequel den Vorzug gab. Schon sein Landsmann Alfonso Cuaron hatte anno 2003 gezeigt, wie man aus dem verspielten, niedlichen Disney-Land eines Chris Columbus ein visionär neues Potter-Universum erstehen lassen kann. Und de Toro selbst hatte anno 2005 mit seinem schier überwältigenden, mehrfach preisgekrönten Fantasy-Drama "Pan's Labyrinth" erahnen lassen, wie man Harry Potter hätte verfilmen können.
Nichts davon erleben wir in "Harry Potter und der Halbblutprinz". Und da aller schlechten Dinge nicht nur drei, sondern sogar vier sind, wird David Yates 2010 und 2011 auch den auf zwei Filme aufgeteilten letzten Band "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes" in Szene setzen. Dann etwa wieder Hanni und Nanni statt Gellert Grindelwald, Soap statt apokalyptischem Endkampf zwischen Gut und Böse? Der sechste Film lässt Schlimmes erahnen. Quo vadis, Harry Potter?
5 von 10 Punkten