Während eines Boxkampfes erfährt der gealterte Londoner Mafia-Chef "Gangster" (Malcolm McDowell), dass sein einstiger Chef und Mentor Freddie Mays nach 30 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Und "Gangster" beginnt sich zu erinnern, wie er als Jung-Krimineller im Londoner Gangland der Swinging Sixties seine Karriere startete. Gemeinsam mit "Gangster" unternimmt der Zuschauer eine Zeitreise zurück in die Epoche, in der der unangefochtene Herrscher der Londoner Unterwelt noch Freddie Mays hieß. Und dieses 30 Jahre jüngere Alter Ego der Hauptfigur ist ein Mann für's Grobe, eine blonde Bestie. Paul Bettany liefert als junger "Gangster" das verstörende Psychogramm eines komplett schizoiden Gewaltmenschen: Mit stoischer Ruhe, die bisweilen nahe an Katatonie heranreicht, vermag er alle Emotionen zu unterdrücken, um dann wie ein entfesselter Alptraum über seine Opfer herzufallen und in einem grotesken Blutrausch zu explodieren (was die Kamera besonders schmerzhaft aus der Perspektive der Opfer einfängt). Was ihn treibt, ist kein Gehorsam, sondern blinde Machtgier: Mit der Blutrünstigkeit eines Mithridates putscht sich "Gangster" zum Gewaltherrscher in der Londoner Unterwelt empor, wobei Gegner und Weggefährten gleichermaßen eiskalt aus dem Weg geräumt werden. Und dennoch erreicht der Emporkömmling nicht die Klasse des von ihm vergötterten Mays: "Was hast du, was ich nicht habe?" fragt "Gangster" verzweifelt, als sich beide nach 30 Jahren wiedersehen. Das junge Ich des namenlosen Erzählers erinnert in Mimik und Habitus deutlich an den 1970 von Michael Caine gespielten Killer in Mike Hodges Britkult-Klassiker "Get Carter". Die Gespaltenheit des jungen Gangsters unterstreicht der Film durch Split-Screens und reflektierende Oberflächen. Die Geschichte des Alten wird als Hommage an den frühen amerikanischen Gangsterfilm von einem dunklen Voice-Over aus dem Off berichtet und verleiht so der gealterten, müden Killermaschine einen Hauch von Menschlichkeit. Paul McGuigan taucht mit "Gangster No.1" ganz tief in die legendäre kriminelle Vergangenheit von London ein, die Peter Madek bereits in "Die Krays" aus dem Jahr 1990 beschwor. Angelehnt an Coppolas "Paten-Trilogie und Scorseses "Good Fellas" erzählt der Regisseur von "The Acid House" ein Shakespearesches Königsdrama, eine düstere und Tragig-umflorte Chronik von Eifersucht und Gier, Verehrung und Verrat. Die zentrale Figur ist ein Ungeheuer in Menschengestalt, das wie Shakespeares Richard III. "die Welt nahm, um darin zu hausen". Im kleineren Maßstab ist es auch die gleiche Geschichte, die Sergio Leone in "Spiel mir das Lied vom Tod" und "Es war einmal in Amerika" in epischer Form ausbreitete: Das Motiv der beiden ungleichen Partner, deren Lebenslinien sich durch eine schicksalhafte Begegnung ineinander verklammern und die sich nach jahrzehntelanger Trennung wiedersehen. Doch während Charles Bronson im finalen Duell gegen Henry Fonda die Tilgung der Schuld und die Erlösung von den Harpyien der Vergangenheit findet, geht es "Gangster" Malcolm McDowell so wie James Woods in "Es war einmal in Amerika": Weder kommt es zur Wiedervereinigung mit dem einstigen Weggefährten noch zur endgültigen, entscheidenden Abrechnung. Das Duell, auf das "Gangster" gewartet hat, findet nicht statt, und die von Schuldgefühlen zermarterte Seele verfällt nach der Offenbarung dieser Lebenslüge, der Erkenntnis, dass man all die Jahre vergeblich auf den großen Antagonisten gewartet hat, endgültig dem Wahnsinn. |
Besucher Nr. seit 26.03.2001
Diese Kritik ist die Meinung von Johannes Pietsch.