Comicverfilmungen dienen oftmals für Regisseure als Stilübung der lukrativen Sorte: Haben sie sich einmal als Filmemacher im innovativen oder Independentbereich einen Namen gemacht, so winkt ihnen mit der Inszenierung einer Comicadaption die Eintrittskarte zu den ganz großen Geldtöpfen Hollywoods. Gerade bei einer Comicverfilmung lässt sich die Charakterstärke eines solchen Regisseurs trefflich daran messen, inwiefern er sich für das große Budget zu Zugeständnissen an Kommerz und Massenkompatibilität korrumpieren lässt: Während Tim Burton, der Meister des American Gothic, seinen kompromisslos düsteren Stil in den ersten beiden "Batman"-Verfilmungen beinahe uneingeschränkt durchhielt, ließ Joel Schumacher das vierte Filmwerk des Fledermausmannes "Batman and Robin" in einem völlig überzogenen, pastellbunten Klamaukkonglomerat scheitern. Und während Mark Dippé mit "Spawn" 1997 nur ein lauwarme Effektspektakel zustandebrachte, gelang Stephen Norrington mit dem pechschwarzen Vampirrächer-Epos "Blade" eine der gelungensten Comicverfilmungen überhaupt. Zuletzt zeichnete Bryan Singer, Schöpfer des genialen "The usual suspects", den wie Batman und Superman aus dem Hause Marvel stammenden "X-Men" ein ungewöhnlich nachdenkliches, beinahe philosophisches filmisches Portrait. Nun fiel ausgerechnet Sam Raimi, dem einstmals für "Evil Dead" gefeierten Splatter-Visionär, die Aufgabe zu, Spider-Man, dem zweifellos beliebtesten unter den gezeichneten amerikanischen Superhelden, zu seinem ersten wirklich großen Zelluloidauftritt zu verhelfen (zuvor war der Comic-Held bereits Ende der 70er Jahre in einer für das amerikanische Fernsehen gedrehten Serie zu sehen). Eine Mammutaufgabe mit einer im Falle des Scheiterns enorm hohen Fallhöhe, bedenkt man die ungeheure und ungebrochene Popularität, die der Spinnenmann in den Vereinigten Staaten genießt, und die Raimi vor allem durch sein glänzend aufgelegtes Darstellerensemble mit Bravour absolvierte. Wenige Comichelden dürften wie Spider-Man einen so hohen Sympathiebonus und zugleich in den Vereinigten Staaten einen Status besitzen, der beinahe dem eines Nationalheiligtums gleichkommt. Auf 25.000 Dollar schätzen Sammler den Wert der "Amazing-Fantasy"-Ausgabe Nr. 15 von 1962, in der Spider-Man seinen ersten Auftritt hatte, auf immerhin 18.000 Dollar die Ausgabe "Amazing Spider-Man" Nr. 1 von 1963. Die Popularität dürfte vor allem in der Menschlichkeit der Figur begründet liegen, die sich hinter dem Spinnenmannkostüm verbirgt: Spider-Mans Alter Ego Peter Parker ist kein Außerirdischer vom Planeten Krypton und kein finsterer, schizoider, die Gespenster der Vergangenheit jagender Rächer im Fledermauskostüm, sondern bietet als stinkgewöhnlicher Heranwachsender mit allen generationstypischen Problemen mehr Identifikationsfläche als alle anderen Marvel-Helden. Dieser Superheld spielt im realen Leben nicht den schüchternen, etwas linkischen jugendlichen Journalisten, den sein Kollege Clarke Kent zu sein vorgibt, er ist es wirklich. Peter Parker, der durch einen Spinnenbiss übernatürliche Kräfte erlangt und auf einmal mit all den spätpubertären Unzulänglichkeiten eines schmächtigen, introvertierten Heranwachsenden im Handstreich aufräumt, ist damit das perfekte Umkehrbild so vieler jugendlicher Ohnmachtsgefühle. Und Sam Raimi gelingt insbesondere in der ersten Hälfte seiner Leinwandversion, diese durch und durch menschliche Seite des Comichelden Spider-Man einfühlsam zu adaptieren und auf bewundernswerte Weise lebendig, förmlich greifbar werden zu lassen. Der 27jährige Tobey Maguire ist schlicht Idealbesetzung als schüchterner, introvertierter und leicht verklemmter Teenager, der seine dicke Hornbrille wie das Kainszeichen des Versagers auf der Nase trägt, in der Schule von seinen Mitschülern gehänselt wird und seit der vierten Klasse die Nachbarstochter Mary Jane liebt, ohne sich je getraut zu haben, sie anzusprechen. Die Geborgenheit seines kleinbürgerlichen Zuhauses illustrieren vortrefflich Rosemary Harris, deutschen TV-Zuschauern sicherlich noch bestens aus ihren Rollen in "Holocaust" und "The Chisholms" bekannt, als liebevolle Aunt May und Hollywood-Alt-Haudegen Cliff Robertson ("Die Nackten und die Toten", "Devil's Brigade") als vierschrötiger, aber ebenfalls herzensguter Onkel Ben. Beinahe schon übertrieben wirkt diese kleine Heile-Welt-Idylle, was den späteren Schmerz des Protagonisten über deren Zerstörung nur noch nachhaltiger fühlbar macht. Parallel zu Parkers Familie führen Raimi und sein Drehbuchautor David Koepp als diametralen Gegenentwurf die Familie Osborn ein, mit der Peter Parkers Leben gleich in mehrfacher Hinsicht schicksalhaft verbunden wird. Willem Dafoe glänzt in der Rolle des mondänen Großindustriellen Norman Osborn, den ein fehlgeschlagenes Experiment seine dunklen Seiten hervorkehren lässt, um in bester Jeckyll-and-Hyde-Manier zum Green Goblin, dem großen Gegenspieler des Spider-Man, zu avancieren. Eine Ebene darunter, auf der von Peters ziviler Existenz eines Highschool-Absolventen mit einer Anstellung als Fotograf bei einer großen Tageszeitung, rivalisiert der adoleszente Superheld (in Vertretung des Proletariats) mit dem schwerreichen Osborn-Junior Harry, der zugleich sein bester Freund ist, um die Gunst bereits erwähnter Nachbarstochter Mary Jane. Charaktermime Dafoe wird durch David Koepps Drehbuch glücklicherweise in die Lage versetzt, seinen Norman Osborn weder als eindimensionalen Klischee-Schurken noch als ironisch verzerrten und damit seiner Bedrohlichkeit weitgehend beraubten Widerpart anzulegen, sondern die Figur des Green Goblin sowie dessen menschliches Alter Ego zu einem ebenso schillernden wie tragischen Kontrahenten zu entwickeln, was beinahe die Brillianz eines "Joker" Jack Nicholson erreicht und dessen schicksalhafte Note von Raimi mit einem satten Schuss "Fight Club" untermauert wird. Bemerkenswert ist auch, dass es sogar einem Newcomer wie James Franco gelingt, der vergleichsweise farblos angelegten Figur des Harry Osborn noch charakterliche Tiefe abzugewinnen. In Nebenrollen darf J.K. Simmons als Chefredakteur und Parkers Arbeitgeber eine beißende Gordon-Gekko-Parodie abgeben und Raimi-Regular Bruce Campbell mit ekliger Elvis-Tolle ausnahmsweise keine Zombies sondern die Gladiatoren eines Wrestling-Turnieres herumkommandieren. Sam Raimi erzählt "Spider-Man" in seiner ersten Hälfte als wunderbar warmherzige, stellenweise höchst komödiantische Coming-of-Age-Geschichte, ohne jemals in den Bereich des Lächerlich-Slapstickhaften abzugleiten. Peter Parkers erste ungelenke Schritte auf seinem Weg zum Superheldendasein, das Entdecken ungewohnter Kräfte und Fähigkeiten und damit korrespondierend das Heranreifen einer neuen, ernsthaften Weltsicht werden als wunderhübsche Allegorie auf die körperlichen "Entdeckungen" während der Pubertät angelegt, wenn Peter beispielsweise vor dem Spiegel fasziniert seinen auf einmal muskulös erblühten Oberkörper betrachtet oder seiner besorgten Tante den Zutritt zu seinem Zimmer verwehrt, in welches er in grenzenloser Begeisterung über seine neuen arachnoiden Fähigkeiten von oben bis unten weiße Spinnweben verschleudert hat. Auch seine ersten Auftritte im (voll jugendlichem Elan für einen Wrestlingkampf selbst entworfenen) Spider-Man-Kostüm fallen eher tollpatschig denn wirklich heldenhaft aus, wobei Tobey Maguire sowohl die Lacher als auch die Herzen der Zuschauer stets auf seiner Seite hat. Den Wendepunkt zum Dramatischen findet das Geschehen mit dem Tod des geliebten Onkel Ben, was raffinierterweise mit einem narrativen Kniff ausgestattet wird, so dass der Verlust für Peter nicht nur das Ende der Kindheit sondern auch das Ende der Unschuld markiert. Spider-Mans späteres Eintreten für Gerechtigkeit und gegen das Verbrechen wird damit ein Stück weit als Suche Peters nach Sühne und Erlösung von dem Selbstvorwurf, den Tod des Onkels nicht verhindert zu haben, erklärt, auch wenn ihm dessen Worte die Superheldentätigkeit allein als Verpflichtung auf Grund seiner Fähigkeiten aufoktroyieren wollen: "With great power comes great responsebility." Das Aufeinandertreffen von Spider-Man und dem Green Goblin stilisieren Raimi und Koepp als schicksalhafte Konfrontation, der gleichsam Tragik wie Unausweichlichkeit anhaften: Verbindet doch die beiden, die sich in ihren Maskeraden bis aufs Blut bekämpfen, in ihrem zivilen Leben ein inniges familiäres Verhältnis. Abstriche macht der Film bei den Action-Sequenzen. Sie wirken aufwendig, aber nicht spektakulär, und die vor allem bei Spider-Mans Hochhaussprüngen und Flügen durch tief eingeschnittene Straßenschluchten von FX-Spezialist John Dykstra eingesetzten CGI-Effekte sind trotz scheinbar frei fliegender Hochgeschwindigkeitskamera stets als Tricks zu erkennen und damit alles andere als sensationell. Unspektakulärer, aber wesentlich gelungener sind dafür jene Effekte, die Peters erweitertes Wahrnehmungsvermögen für den Zuschauer visualisieren, wenn er zum Beispiel die heranrasende Faust eines erzürnten Mitschülers schnell genug wahrnimmt, um sie in Zeitlupe einmal lässig zu umrunden, was später in einem "Matrix"-Zitat vor flammendem Inferno noch einmal ausgiebig zelebriert wird. Danny Elfmans Score untermalt die dramatischen Szenerien nicht zu pompös, um aufdringlich zu wirken. Gegenüber dem ansonsten stimmigen Ganzen wirkt dann das Ende leider wenig konkludent: Zu aufgesetzt, zu konstruiert erscheint der Ausgang der Geschehnisse, zu augenscheinlich das Bemühen von Drehbuchautor Koepp, dem Helden ein echtes, vollwertiges Happy-End zu versagen und damit bereits die Exposition zu schaffen für die folgenden Abenteuer des Spinnenmannes. Daß die auf die Leinwand kommen werden, steht außer Frage: Bereits jetzt haben Sam Raimi und Tobey Maguire für "Spider-Man II" unterschrieben. |
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Diese Kritik ist die Meinung von Johannes Pietsch.