Steven Spielberg, vor allem in den 80ern als Regie-Wunderkind und Kino-Magier gepriesen, erwarb sich seine Meriten weniger durch eigene, wegweisend innovative filmische Erzählungen als vielmehr dadurch, bekannte Ideen, Motive und Mythen des Kinos oder der Populärliteratur in neuem erzählerischem Gewande, mit oftmals scheinbar schwereloser inszenatorischer Leichtigkeit und geradezu kindlich-naiver Phantasie zu adaptieren. Die Welt beneidet jedoch ihre ewigen Kinder, und so war bisweilen geradezu Schadenfreude herauszuhören, als Spielberg in den 90er Jahren für "Schindler's List" und "Saving Private Ryan" per ein Reifezeugnis ausgestellt bekam. Das neue Jahrtausend eröffnete Spielberg mit dem sehr zwiespältig aufgenommen "Artificial Intelligence", einer für Stanley Kubrick zu Ende geführten Regiearbeit, die ihre stark von Collodis Pinocchio inspirierte Geschichte über ein elternloses Roboterkind zwar optisch in faszinierender visueller Grandezza, inhaltlich aber mit allzu metaphysisch verquastem und in den Weltanschauungen hilflos verhedderten Sinn- und Moralanspruch erzählte. Mit "Minority Report" scheint sich Spielberg jedoch wieder auf seine unzweifelhaften Tugenden als Unterhaltungsfilmer besonnen zu haben: Mit seinem neuen Film, basierend auf einer Vorlage des "Blade Runner"- und "Total Recall"-Autoren Philip K. Dick, erweist sich der Regisseur als Schöpfer erstklassigen, rasanten Science-Fiction-Kintopps. Der Blick in die Zukunft und seine Auswirkungen, das Wechselspiel von Ursache und Wirkung zwischen den Zeitebenen und die Idee des Zeitparadoxons gehörten schon immer zu den faszinierendsten Sujets des Science-Fiction-Genres. Es hat wohl mir den narrativen Möglichkeiten zu tun, dass im Kino so oft die Frage nach dem "Was wäre, wenn" gestellt wird. Zeitreisefilme tun dies rückwärtsgewandt, indem sie ihren Figuren mittels Zeitsprung die Möglichkeit eröffneten, bis in die Gegenwart reichende Ereignisabfolgen zu ändern oder ungeschehen zu machen und offenbaren dabei nicht selten den logischen Circulus vitiosus, in welche sich diese Handlungskonstrukte bei konsequenter Verfolgung der Idee des Zeitparadoxons begeben: Wenn ich in die Vergangenheit reise und meinen Vater töte, so werde ich nie geboren, kann dementsprechend aber auch nie in die Vergangenheit reisen. Die meisten Filme und Autoren überwinden dieses für jede Storylogik scheinbar unüberwindbare Hindernis mit dem Postulat verschiedener möglicher paralleler Zeitlinien respektive Universen, die sich an gewissen temporalen Scheidewegen aufzuteilen in der Lage sind. So zeigte uns Robert Zemeckis in seinen drei clever konstruierten und erzählten "Back to the future"-Filmen diverse Biographien seines Zeitreise-Helden Marty McFly, James Camerons "Terminator" löste mit einer Reise in die Vergangenheit die eigene Zukunft erst aus und beendete sie durch Eigenvernichtung sogleich wieder, und Filme wie "12:01", "Und ewig grüßt das Murmeltier" oder Tom Tykwers "Lola rennt" räumten ihren Protagonisten sogar völlig ohne den Versuch einer Erklärung die Möglichkeit ein, nach einer vertanen Chance alles wieder auf Null zu setzen. In die entgegengesetzte Richtung arbeiten Filme mit dem Prophetie-Paradoxon: Besteht - so deren zentrale Fragestellung - für ein Individuum die Chance, bei Kenntnis der Zukunft diese so zu ändern, so dass das Vorhergesehene nicht eintritt? Auf der Suche nach einer Antwort entdeckte David Cronenbergs Johnny Smith mit der "Dead Zone" jenen Handlungsspielraum, um eine menschheitsbedrohende Entwicklung aufzuhalten. Die Zukunft sei nicht festgelegt, stellte Sarah Connor in "Terminator 2" fest, und in Gregory Hoblits "Frequency" sorgte die ungewöhnlichen Funkübertragungen eines Radios dafür, dass ein Vater im Jahr 1969 von seinem Sohn aus dem Jahr 1999 die entscheidenden Informationen erhielt, um den eigenen und den Tod seiner Frau zu verhindern. Auch Stephen Spielberg lässt in "Minority Report" keine Personen, sondern Informationen Zeitreisen unternehmen. Dazu bedienen sich in Washington D.C. des Jahres 2054 die Mitarbeiter der Polizeibehörde Pre-Crime dreier Mutanten, der sogenannten Pre-Cogs, die in der Lage sind, zukünftige Morde vorauszusehen. In einem von der Außenwelt hermetisch abgeschlossenen Gebäudekomplex werden die drei Geschöpfe, eingelegt wie Heringe in einer Art Nährflüssigkeit, in einem drogeninduzierten Dämmerzustand gehalten, während ein Computer ihre Gedanken aufzeichnet und visualisiert. Registrieren die Pre-Cogs ein zukünftiges Gewaltverbrechen, so werden die Pre-Crime-Spezialkräfte aktiv, um den Mörder in spe vor Ausführung der Tat zu verhaften und ihn dem unternehmenseigenen Hochsicherheitsgefängnis zuzuführen. Der Plot um den Spitzenagenten John Anderton (Tom Cruise), der sich nach einer entsprechenden Prophetie der drei Pre-Cogs auf einmal selbst im Fadenkreuz wiederfindet und von den eigenen Leuten gnadenlos gejagt wird, rekapituliert die meisten gängigen Klischees bislang ersonnener futuristischer Gesellschaften und eines Einzelgängers darin, der vom überzeugten Diener des Systems zum verfolgten und gejagten Outsider wird. In bester Dr.-Kimble-Manier muß sich Anderton alias Tom Cruise, dem für diese Rolle eine mehr als nur solide dastellerische Leistung mit Mut zu ungewöhnlicher Hässlichkeit zu bescheinigen ist, auf der Flucht vor den eigenen Kollegen in das Herz des zuvor selbst unterstützten Systems vorkämpfen, um dort den Kern der Verschwörung, die ihn zum Outlaw werden ließ, ausfindig zu machen und seine eigene Unschuld zu beweisen, immer die Drohung der eigenen Verhaftung und Verurteilung im Nacken. Genauso waren schon Michael York in "Logan's Run", Arnold Schwarzenegger in "Total Recall" und Sylvester Stallone in "Judge Dredd" auf der Flucht. Auch die übrigen Charakterprofile sind hinlänglich bekannt: Da gibt es den väterlichen Freund und Mentor, der an die Schuld seines Zöglings nicht glauben will (und der wie in "Judge Dredd" von dem scheinbar zeitlosen Max von Sydow gespielt wird) sowie den ehrgeizigen und eiskalten Jäger (Colin Farrell), der sich wie einst Richard Jordan in "Logan's Run" an die Fersen des Flüchtigen heftet. Während von Sydow gewohnt souverän agiert, liefert insbesondere der junge Farrell, der bislang im deutschen Kino nur in dem reichlich albernen Teenie-Western "American Outlaws" zu sehen war, auf den Spuren von Tommy Lee Jones' eine markante Vorstellung. Trotz der unübersehbaren Parallelen zu anderen Science-Fiction-Werken bietet Spielbergs dramatisch erzählte und rasant gefilmte Hetzjagd durch das Washington des Jahres 2054 ein zusätzliches Antriebsmoment: Flohen York, Schwarzenegger oder Stallone nur vor den Häschern des stiefmütterlichen Systems, so muß Tom Cruise zusätzlich der Nemesis des eigenen möglicherweise bevorstehenden Kapitalverbrechens entkommen: Schließlich sagten ihm die drei Pre-Cogs en Detail voraus, einen Mord zu begehen, und so flieht der ehemalige Pre-Crime-Agent nicht nur vor der Verfolgung für ein ihm zu Unrecht angelastetes Verbrechen, sondern auch vor dem scheinbar unausweichlichen Kismet, diese Tat tatsächlich zu begehen. Und so zieht sich das Netz in dem stellenweise elektrisierend spannend inszenierten Katz- und Mausspiel gleich von zwei Seiten um John Anderton zusammen: Während seine Verfolger dem Renegaten ständig dichter auf den Fersen sind, gerät der Flüchtige immer unaufhaltsamer an sein zukünftiges Opfer heran - einen Mann, dessen Namen er bei der Vorhersage seiner zukünftigen Tat durch die Pre-Cogs noch nie gehört hat. Und dort bekommt der Film - wenn auch nur sehr flüchtig - die zuvor angesprochene philosophische Dimension: Kann ein durch Prophetie erfahrenes zukünftiges Ereignis auf Grund von dessen Kenntnis verhindert werden? Oder wird es etwa wegen und auch nur wegen dieses Wissens erst ermöglicht und dann auch wahr? Einer sonderlich tiefgründigen Beantwortung schenkt Steven Spielberg zu Gunsten von Action und Suspense kaum weiteren Raum. Der titelgebende Minority Report, mit dem Tom Cruise seine Unschuld beweisen zu können glaubt, bleibt genauso ein austauschbarer McGuffin wie jene ominöse Liste in "Mission Impossible", die der gleiche Hauptdarsteller aus ganz ähnlichen Motiven aus der CIA-Zentrale in Langley zu entführen hatte. Das Setdesign von "Minority Report" ist schlicht superb. Da gibt es Großstadtpanoramen und Ansichten von achtspurigen, zum Teil senkrecht verlaufenden Autobahnen, die sogar noch die metropolen Impressionen des Planeten Coruscant aus George Lucas' "Episode II" in den Schatten stellen, interaktive Werbe-Holographien und dreidimensionale Software, die vom Anwender per Arm- und Handbewegung bedient wird, als dirigiere er ein Sinfonieorchester. Geradezu nostalgisch wirken dagegen die kleinen, pfeilschnellen und zum Auffinden und Identifizieren von Verdächtigen in unsicheren Gebäuden eingesetzten Roboterspinnen, die Spielberg offensichtlich bei Michael Crichtons "Runaway" entlieh. Faszinierend ist die stringente Logik, mit der Spielberg das Konzept der totalen Überwachung und Vernetzung des Individuums mittels Eye-Scans verfolgt: Alles wird im Jahr 2054 mit Hilfe von Netzhaut-Scans der Augen geregelt, organisiert, identifiziert, authentifiziert, abgesichert und überwacht. Personalpapiere oder Chipkarten haben ausgedient: Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sich der Arbeitnehmer der Zukunft mittels Blickkontakt mit einer Minikamera Zutritt zu seinem Schreibtisch verschafft, wird er beim Betreten eines Einkaufstempels dieser schönen neuen Konsumwelt identifiziert und mit individuellen Werbebotschaften begrüßt: Big Brother hat im Jahr 2054 eine monotone, einschmeichelnde Computerstimme und tagtäglich nichts Besseres zu tun, als dem wehrlos seiner Verbalberieselung ausgesetzten Kunden den Kauf seiner Lieblingsbiermarke, der neuesten Avantgarde-Mode oder eines ganz besonders unwiderstehlichen Parfüms für die Dame seines Herzens nahezulegen. Freizeitgestaltung per virtueller Realität ist im Jahr 2054 an der Tagesordnung: Konsequent hat Spielberg Kathryn Bigelows Zukunftsvision der Unterhaltungstechnik aus "Strange Days" weiterentwickelt. Janusz Kaminski versieht den Film mit einem beeindruckenden Panoptikum an Farb- und Lichtkompositionen, von überschwänglich hellen und farbigen Szenen bis hin zu im düster-blaugrauen Monochrom gehaltenen Impressionen. Seine und Spielbergs Bildgestaltung, die die Grenzen zwischen fotografierter und simulierter Realität scheinbar mühelos verwischt, übertrifft häufig noch die visuelle Ideenvielfalt des Vorgängerfilms "Artificial Intelligence". Farbenfroh sind vor allem die Rückblenden aus der Erinnerung Andertons an bessere Zeiten gehalten, als er noch verheiratet und Vater eines kleinen Sohns war. Mit der Abwärtsspirale, in die der privat gescheiterte und menschlich gebrochene Protagonist mit dem zusätzlichen Verlust seiner beruflichen Sicherheit und Geborgenheit stürzt, verfinstert sich auch die Szenerie entsprechend der Grundstimmung des Films in ein nachtfahles, verwaschenes Blau. Die Farbe Blau ist für Spielberg eine Metapher für das Unergründliche, insbesondere präsent in "Unheimliche Begegnung" und "E.T." Die Ansicht des unterirdischen Tempels, in dem die drei Pre-Cogs in diffusen Monochromlicht in einem komaähnlichen Dauerzustand gehalten werden, und die düsteren Kulissen von Andertons Fluchtsequenzen antizipieren die suggestive Wirkung des hellen, kreisförmigen Lichts, das bei Spielberg in "E.T." und "Das Reich der Sonne" wiederkehrt, und den Figuren, die sich vor ihm im Gegenlicht abbilden, einen Heiligenschein zu verleiht. Am Ende von "Minority Report" gibt es diese charakteristische Szene gleich zweimal. Das Jahr 2002 scheint für manche namhafte Regisseure eine Besinnung auf den Mainstream zu markieren. Bei David Finchers "Panic Room" und M. Night Shyamalans "Signs" mag sich ob der zuvor erbrachten Regieleistungen darüber vielleicht die eine oder andere Enttäuschung einstellen. Im Falle von Steven Spielbergs "Minority Report" wird es das auf keinem Fall! Johannes Pietsch 8 von 10 Punkten |
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Diese Kritik ist die Meinung von Johannes Pietsch.