"Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen Wohnstätte... von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt. ... (sie) sehen nur geradeaus vor sich hin... von oben her aber aus der Ferne von rückwärts erscheint ihnen ein Feuerschein; zwischen dem Feuer aber und den Gefesselten läuft oben ein Weg hin, längs dessen eine niedrige Mauer errichtet ist... Längs dieser Mauer... tragen Menschen allerlei Gerätschaften vorbei.Können solche Gefangenen von sich selbst sowohl wie gegenseitig voneinander gesehen haben als die Schatten, die durch die Wirkung des Feuers auf die ihnen gegenüberligende Wand der Höhle geworfen werden? Durchweg also würden die Gefangenen nichts anderes für wahr gelten lassen als die Schatten der künstlichen Gegenstände." So formuliert das berühmte Höhlengleichnis den erkenntnistheoretischen Ansatz aus Platos "Politeia", der postuliert, dass der Großteil der Menschheit in einer fortwährenden Illusion über wahre Beschaffenheit des Seins und der Welt dahinvegetiert. Dass die Welt, die Gesellschaft, die Zivilisation oder die Menschen um uns herum nur schaurig-schöner Schein und vorgegaukelte Fassade seien, hinter der sich die (zumeist viel erschreckendere) Realität verbirgt, ist eins der am häufigsten verwendeten Motiv des Science Ficitons. Bereits 1967 schrieben die Autoren James Blish, Alexei Panshin und Joanna Russ, die verbreitete Paranoia in der Science Fiction leite sich aus deren Wurzeln in der Gothic Novel her: Im Schauerroman sei niemand je sicher vor Bedrohungen, die willkürlich jeden von uns zu jeder Zeit treffen können. Howard Philipps Lovecraft dürfte im Genre der klassischen Schauerliteratur als besonders markantes Beispiel für die Konzeption einer kompletten Gegenwelt hinter der Maskerade der scheinbaren Realität stehen. Seither hat die Science Fiction stets auch als eine Arena für sämtliche paranoiden Vorstellungen gedient, die Menschen je erdacht haben, angefangen von Phantasien Arthur Conan Doyles und Jules Vernes über Fassbinders "Welt am Draht", Verhoevens "Total Recall" bis hin zu "Dark City" und den telegenen FBI-Ermittlern Fox Mulder und Dana Scully, die unaufhörlich nach der "Wahrheit irgendwo da draußen" fahndeten. Noch nie dürfte jedoch das paranoide Motiv von der geträumten Scheinrealität so konsequent, so massenwirksam und zugleich für das Genre wegweisend umgesetzt worden sein wie anno 1999 in Larry und Andy Wachowskis "Matrix": Die Welt, die wir zu kennen glauben, gibt es gar nicht. Sie wird uns von Computern künstlich vorgegaukelt, die tatsächlich die Menschen einzeln in Tanks halten und ihren Stoffwechsel zur Energiegewinnung ausbeuten. In der Matrix, wo die Welt nur eine Simulation ist, sind die filmischen Möglichkeiten unbegrenzt: Menschen können in Minuten Kung Fu lernen, sie fliegen, weichen Geschossen aus und tragen in tiefster Nacht die coolsten Sonnenbrillen. In tricktechnisch atemberaubend und filmästhetisch bahnbrechenden Bildern ließen die Wachowskis einen kleinen Trupp von Freiheitskämpfern sowohl außerhalb als auch innerhalb der Simulation zum Kampf gegen die (bereits in James Camerons ähnlich postulierte) Herrschaft der Maschinen antreten. "Matrix" definierte das Genre des Cyber-Thrillers neu, reihte sich nahtlos ein in zeitlose Werke wie "Tron" oder "Blade Runner" und verursachte bis heute ungebremste, allerdings auch sehr genau kalkulierte und eingeplante Fanhysterie. Mit "Matrix Reloaded" hat das visionäre Brüderpaar jetzt die langerwartete Fortsetzung vorgelegt, die im Herbst mit "Matrix Revolutions" zur Trilogie komplettiert werden soll. Ähnlich der "Lord of the rings"-Trilogie und noch ähnlicher der "Back to the future"-Trilogie wurden Teil zwei und Teil drei größtenteils zusammen gedreht und gehen inhaltlich direkt ineinander über, was wie in "Back to the future 2" durch einen sehr abrupten Cliffhanger am Ende von Teil zwei realisiert wurde. "Matrix Reloaded" stellt sich optisch und stilistisch, in Design und Ausstattung als ausgefeilte, stellenweise grandiose Steigerung gegenüber dem Vorgänger dar, präsentiert sich dafür aber inhaltlich mit einigen unübersehbaren Schwächen. Dabei braucht die zweite "Matrix" noch wesentlich länger, um gemessen an dem von dem Vorgänger gesetzten Action-Standard Fahrt aufzunehmen. Zwar beginnt der Film mit einer grandios in Szene gesetzte, in hypnotisierender Zeitlupe exerzierten Kampfsequenz zwischen Trinity und einem Agenten, welche Trinitys Sprung durch ein Fenster in der Eröffnung des ersten "Matrix" wiederholt und zugleich fulminant steigert, doch danach wechselt die Handlung schnell in sehr bodenständige, reale und gegenständliche Gefilde. In einem ungewöhnlich lang ausgespielten, schwerfälligen, geradezu lethargisch inszenierten ersten Teil lernt der Zuschauer Zion kennen, die letzte, weit unter der Erde angesiedelte Bastion freier Menschen, der Menschen also, die sich also mit Hilfe der Rebellen aus der Gefangenschaft als lebende Energielieferanten für die weltbeherrschenden Maschinen befreien konnten. Hier finden Neo (Keanu Reeves), der sich nur langsam mit seinem Status als messianischer Welterretter akklimatisieren kann, Morpheus (Laurence Fishburn) und Trinity (Carrie-Anne Moss) kurzzeitig Rekonvaleszenz, bevor es zurück in die Schlacht gegen die menschheitsversklavenden Maschinen geht. Die sind inzwischen dank ausgefeilten Bohrgerätes auf dem besten Weg, das viele tausend Meter unter der Erde gelegene Zion mit einer gigantischen Armada von Wächtermaschinen zu erreichen, um den letzten freien Menschen den Garaus zu machen. Während die Killer-Roboter unaufhaltsam näher rücken, entbrennt in Zion die ideologische Debatte, wie man der Bedrohung Herr werden kann: Durch militärische Verteidigung, wie es der pragmatische Commander Lock (Harry J. Lennix) fordert, oder, indem man die Prophezeiung des Orakels (Gloria Fosrer) sich erfüllen lässt, nach derer der Krieg automatisch durch den Auswählten bei Erreichen eines bestimmten Ziels in der Matrix beendet wird - so die Marschrichtung von Morpheus. Schon an dieser Stelle gibt "Matrix Reloaded" erzählerisch eine Menge jener abstrakten, unwirklich anmutenden, surrealen Atmosphäre preis, die den ersten Teil so prägte. Insbesondere der Mythos der Figur Morpheus wird gebrochen: Der Gott des Schlafes, der Wegbereiter des Auserwählten und charismatische, spirituelle Renegat des ersten Teils ist auf einmal nicht mehr die übermenschliche, prophetische und unfehlbare Rebellen-Persönlichkeit, sondern als Kommandant eines Zion-Schiffes nur einer unter vielen gleichrangigen Militärs dieser ameisenstaatähnlich organisierten Subkultur, der sich überdies in seiner sehr metaphysischen Sicht der Dinge gegen die nüchterne und rationale Denkweise der übrigen Zionisten behaupten muss. Die politische Führung der subirdischen Kolonie erweist als ebenfalls sehr menschliches Sammelsurium von ausgerechnet Senatoren genannten, zumeist weißhaarigen und formschön hochtoupierten Respektpersonen und erinnert in seiner genuinen Bodenständigkeit fatal an ähnliche politische Gremien diversester zweit- bis viertklassiger Science-Fiction-Werke. Die nächste Expedition in die Matrix gibt der Handlung zwar nicht allzu viel ihres metaphysischen Fundaments zurück, legt aber zumindestens die Action-Gangschaltung des Films wieder in den Schnellfeuer-Modus. Dabei legt "Matrix Reloaded" sein im ersten Film sehr konsequent durchgespieltes Schwarz-Weiss-Schema bei der Charakterisierung von Freund und Feind ad acta. An Stelle einer klar umrissenen Gruppe von Gegenspielern - den wie immer schwarzbebrillten, gnadenlos kämpfenden und fast unbesiegbaren Agenten - eröffnet das Sequel ein ganzes Panoptikum neuer virtueller Matrix-Bewohner. Bekämpft werden müssen unter anderem der mondäne, zwielichtige Unterweltfürst The Merovingian (Lambert Wilson) mitsamt seiner Handlanger, aber auch der abtrünnig gewordene und seit seinem Duell mit Neo zur ungebremsten Vervielfältigung befähigte Ex-Agent Smith (Hugo Weaving). Auch mit dem Keymaker (Randall Duk Kim) tritt "Matrix Reloaded" in ungewohnt ausgetretene Mainstream-Pfade. Er ist nichts anderes als der typische McGuffin, das Objekt der Begierde, um das zwischen Neo und seinen Freunden auf der einen, den Agenten sowie den Handlangern des Merovingian auf der anderen Seite der Action-Orkan der zweiten Filmhälfte entbrennt. Nach diversen rasend schnell inszenierten Kung-Fu-Kämpfen, die diesmal (gewollt) noch viel synthetischer wirken als im ersten Teil, dafür dem Handlungsfluss bisweilen eher im Weg stehen anstatt ihn voranzubringen, erhält "Matrix Reloaded" in einer furiosen und ganz offenkundig von William Friedkins inspirierten Verfolgungsjagd auf einem Freeway seinen an Rasanz kaum zu überbietenden optischen Höhepunkt - ein brachiales Bildergewitter, welches die Höhepunkte des ersten Teils mühelos übertrifft. Darstellerisch wird "Matrix Reloaded" überwiegend getragen von der wie immer wunderbar kühl-androgynen Kriegerin Carrie Anne Moss als Trinity sowie Laurence Fishburn, der die Rolle des Ausbilders, wegweisenden Freundes und spirituellen Führer für den auserwählten Neo mit der dazu nötigen gravitätischen Kraft auszufüllen vermag. Keanu Reeves enttäuscht mimisch (erneut) auf der ganzen Linie, was aber seinem funktionell ungewöhnlich schmal angelegten Part durchaus entspricht: Es ist schon bezeichnend, dass mit der Freeway-Verfolgungsjagd das spektakuläre Action-Highlight des Films praktisch ohne ihn auskommt. Der heimliche Hauptdarsteller des Films ist jedoch der charismatische Hugo Weaving. Eine Art hasserfüllte Blutsbrüderschaft verbindet ihn mit Neo, dem er einerseits seine Freiheit verdankt, andererseits aber auch die Qualen, die ihm menschliche Empfindungen bereiten. War der erste Matrix ein von bleierne Ernsthaftigkeit getragener Film, so bringt die Figur des Agent Smith zum ersten Mal Humor und damit indirekt die Frage nach der Menschlichkeit von Maschinen ins Spiel - Ansätze einer hintergründigen Parodie auf die Eigenarten von Computersoftware sowie einige philosophische Spekulationen über das Wesen von Künstlicher Intelligenz und die Symbiose zwischen Menschen und Maschinen sind unübersehbar. Ansatzweise gibt der Film sogar die Antworten, zu denen Steven Spielberg in seinem misslungenen "A.I." noch nicht einmal die Fragen stellte. Schon im ersten Teil blitzte dieses Thema für einen winzigen Moment auf - als Chef-Agent Smith gegenüber dem gefangenen und gefolterten Morpheus begann, über seine Unzufriedenheit als Computerprogramm zu monologisieren. Do androids dream of electric sheeps? Erst im Finale fokussiert sich die Handlung wieder auf Neo und gibt dem Film einen für den von den Wachowskis geschaffenen Mythos symptomatischen, in der Radikalität seines Schwenks aber nicht erwarteten Schlussakkord: Neo tritt nach durchstandenem Handkanten- und Kugelhagel durch eine Tür in eine neue Daseins- oder Bewusstseinssphäre, die sich gegenüber der vorherigen Materialschlacht wie das Auge eines Hurricans ausnimmt. Dem dort angetroffenen "Architekten" (Helmut Bakaitis) steht der Auserwählte gegenüber wie Momo am Ende von Michael Endes gleichnamigem Roman Meister Hora, wie Atréju in Endes "Unendlicher Geschichte" dem Orakel, oder wie Dorothy in Frank L. Baums "Wizard of Oz" dem vermeintlichen Magier - ein Zauberlehrling am Ziel seiner Gesellenwanderschaft, um einen Teil der Wahrheit hinter all den elektronisch-virtuellen Potemkinschen Dörfern zu erfahren, die um die Matrix und auch um ihn, seine Bestimmung und seine Mission errichtet wurden. Die Offenbarung erfolgt jedoch mit keinem schlagartigen Aha-Effekt, sondern stückweise, in einem lang ausfabulierten Dialog, unendlich philosophisch verbrämt und mit dem seit Teil eins gängigen Vokabular verklausuliert - und natürlich ohne Garantie auf endgültigen Wahrheitsgehalt. Ist es tatsächlich die Wahrheit, die Neo sowie Zuschauer vom Architekten erfahren? Der Cliffhanger am Ende des Films stellt alles wieder in Frage. Inhaltlich folgt der Film insgesamt zu stark dem Fortsetzungsgesetz des Mainstreams, einerseits zu viel aus dem ersten Teil zu rekapitulieren und gleichzeitig steigern zu wollen, naturgemäß aber das Rad nicht neu erfinden zu können und dadurch automatisch hinter den grundsätzlich an den am ersten Teil orientierten Erwartungen scheitern zu müssen. Dafür weckt das wilde Genre-Konglomerat aus großkalibrigem Feuerwerk, christlicher Erlöser-Mystik, Virtual Reality, Endzeit-Mythologie, Gnostik, Techno-Furor und (wirklich erstklassigen) Sonnenbrillen noch höhere Erwartungen an Teil drei - eine schwere Hypothek, die die Wachowskis im November einlösen müssen. Optisch perfektioniert das Brüder-Paar dagegen mit Kameramann Bill Pope erneut das Prinzip der Bullet-Time-Fotografie, die Luftsprünge, Hochhausstürze und Geschossflüge nach Belieben gefrieren lassen kann. Mit der Opulenz ihrer Tricktechnik und Special-Effects-Wunder, dem Gigantismus ihrer digitalen Delirien und dem Perfektionismus ihrer Kampf-Choreographien setzen die Wachowskis erneut Maßstäbe für alle Epigonen: Das Design bestimmt das Bewusstsein. |
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Diese Kritik ist die Meinung von Johannes Pietsch.